Rudolf Steiner heute verlegen
Welche Schwerpunkte setzen die Rudolf Steiner Ausgaben?
Rudolf Steiner sagt in einem Vortrag am 25. April 1919 vor Arbeitern der Daimler-Werke in Stuttgart: «Jeder kann … drucken, was ich hervorgebracht habe. Man kann es in beliebiger Weise verwenden, und das ist recht.» (s. Rudolf Steiner, Mut zur Freiheit, S. 38) «In beliebiger Weise verwenden» heißt für uns, dass man bei zunehmender Individualisierung der Menschen für verschiedene Zeiten und Zielgruppen unterschiedliche Prioritäten setzen muss. Wir leben ein Jahrhundert nach dem Tod Rudolf Steiners. Jeder, der ihn heute verlegt, muss in Bezug auf manche Fragen eine grundsätzliche Wahl treffen. Entweder gibt er höchste Priorität der kritisch-wissenschaftlichen historischen Forschung, die als solche mit dem Leben nichts zu tun hat, oder der Überzeugung, wenn er eine solche hat, dass die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie zum unmittelbaren Leben wird.
Dazu ein Beispiel: Wenn Rudolf Steiner 1922 die von ihm durchgesehenen, schon 1911 als Manuskript gedruckten Vorträge über «Volksseelen» neu drucken lässt mit dem Vermerk auf dem Titelblatt: «Nur für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft», so kann man das nicht ohne Weiteres als einen Text betrachten, der genauso 2025 und für Nicht-Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft taugt. Leser mit historisch-kritischem Interesse haben ihr gutes Recht auf eine historisch-kritische Ausgabe – in der dann nicht nur der Wortlaut von 1922, sondern auch der von 1911 im kritischen Apparat am Fuß der Seite angeführt werden müsste. Aber es gibt auch genügend Wahrheitssuchende, denen das häufig vorkommende Wort «Rasse» die Lektüre unerträglich macht. Sie werden den 1922er Text dieser Vorträge nicht lesen, ganz gleich, welche noch so klugen Kommentare der Herausgeber anhängt. Heute wird der Mensch von den meisten mit seinem Körper gleichgesetzt. Aussagen über Rassen werden unvermeidbar auf den ganzen Menschen bezogen. Eine nähere Erläuterung der Gründe, weshalb wir «Rasse» durch «Körperart» ersetzt haben, findet der Leser im Vorwort zu: Rudolf Steiner, Volksengel. Wichtig ist, dass wir diese Ersetzung für den Leser kenntlich machen.
Ein anderes Beispiel, wo man sich als Herausgeber vor eine Wahl gestellt sehen kann, ist Die Philosophie der Freiheit. Hier handelt es sich nicht um Vorträge, deren genauer Wortlaut nicht rekonstruiert werden kann, sondern um ein (geschriebenes) Werk. In GA 4 ist die Philosophie der Freiheit so gedruckt, wie sie vom Autor für die endgültige Ausgabe 1918 geprägt wurde. Ein solcher Druck darf unseres Erachtens in der heutigen Menschheit nicht fehlen. Nur muss man sich bewusst machen, dass die alte Rechtschreibung (z. B. «aszetisch», «gleichgiltig»), das überholte Dativ-e (z. B. «Kaufmanne»), das überhäufige Vorkommen des Semikolons usw. heute nicht wenigen Lesern die Lektüre noch schwerer macht, als sie ohnehin wegen des Inhalts ist – weshalb viele das Buch gar nicht erst in die Hand nehmen. Die Rudolf Steiner Ausgaben geben der Zugänglichkeit für den heutigen Menschen höchste Priorität, sind aber zugleich bestrebt, der Genauigkeit des wissenschaftlichen Verfahrens den allerhöchsten Wert einzuräumen. In unserer Ausgabe ist Die Philosophie der Freiheit nach der aktuellen Rechtschreibregelung gedruckt, das Dativ-e ist entfernt und viele Semikolons sind durch Komma oder Punkt ersetzt. Es bleibt sonst alles beim überlieferten Text, aber die Lektüre wirkt auf einmal erstaunlich frisch und modern. Diese Ausgabe ist außerdem die erste, in der Rudolf Steiners Änderungen oder Erweiterungen der 1. Auflage für die 2. durch einen kritischen Apparat unmittelbar nachvollziehbar gemacht werden – auch hier mit Anspruch auf höchste wissenschaftliche Genauigkeit –, wobei gleichzeitig dem Leser eine ungestörte Lektüre ermöglicht wird, wenn er eine solche wünscht. DIESE AUSGABE ERLEBT SCHON DIE 9. AUFLAGE!
Was die Vorträge Rudolf Steiners angeht, sind wir in den Rudolf Steiner Ausgaben bestrebt, durch ein vergleichendes Studium der erhaltenen Unterlagen dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich zu kommen und die Anthroposophie einer breiten Leserschaft, auch Menschen ohne besondere Bildung, zugänglich zu machen – sowie auch Menschen, die nicht das Geld haben, um teure Bücher zu kaufen. In diesem Rahmen kommen vor allem die öffentlichen Vorträge in Betracht, denen Rudolf Steiner selbst bis zu seinem Tod ein besonderes Gewicht beigemessen hat. Wir träumen von einer Menschheit, in der das Bedürfnis nach Anthroposophie so groß und die Nachfrage so weit verbreitet ist, dass mehrere Verlage mit unterschiedlichen Schwerpunkten bezüglich der Wahl und Gestaltung der Texte sowie der Zielgruppe vom Druck der Werke und Vorträge Rudolf Steiners gut leben können.
Monika Grimm und Pietro ArchiatiRudolf Steiner Ausgaben
(Daten wurden aktualisiert)